Sieben Thesen

7 Thesen des Dachverbands Alfa-Selbsthilfe e.V.

Funktionaler Analphabetismus in Deutschland – über 6 Millionen Menschen sind zu viel
Mehr als 6 Millionen Menschen haben die Schule als „funktionale Analphabeten“ verlassen,
zum größten Teil deutsche Schulen. Ihre Fähigkeiten zu lesen, Gelesenes zu verstehen und zu
schreiben, sind in unterschiedlichem Umfang eingeschränkt.1
Verschiedene pädagogische, familiäre, gesundheitliche oder persönliche Ursachen tragen
dazu bei. Häufig stehen funktionale Analphabeten oder „gering literarisierte Menschen“
oder Menschen mit Lese-Rechtschreib-Problemen vor großen Hürden im Alltag.
Dabei wird Ihre Lage noch schwieriger, durch ihren Rückzug in die Isolation. Aus der Isolation
auszubrechen, Gleichgesinnte und Hilfe zu finden, gelingt am besten in Selbsthilfegruppen.
Daher will der Dachverband Alfa-Selbsthilfe e.V. die Selbsthilfegruppen als zentrale Säulen
der Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland verankern.
Derzeit gibt es zehn Selbsthilfegruppen in Deutschland.
Um unser Anliegen voranzutreiben haben wir sieben Thesen aufgestellt. Diese wollen wir mit
allen Betroffenen, Lernern, Lerner-Experten, Gruppen und der Öffentlichkeit diskutieren.
Für eine bessere Lesbarkeit haben wir für diesen Text die männliche Form gewählt. Sie
bezieht alle Geschlechter mit ein.
1 LEO 2018. Leben mit geringer Literalität (uni-hamburg.de)
Sieben Thesen zur aktuellen Lage und zu dem, was zu tun ist

1. These:
Selbsthilfegruppen ermöglichen Veränderung!
Gemeinsam sind wir stärker. Daher sind Selbsthilfegruppen so wichtig, um unsere Isolation
zu überwinden. Anerkennung zu finden und gemeinsam Hilfe zu suchen sind ein erster
Schritt, heimisch zu werden in einer Welt des Lesens und Schreibens.
Die Selbsthilfegruppen leisten einen großen Beitrag zum „ersten Ruck“ auf dem Weg zum
Lernerfolg und beim Aufbau eines starken Selbstbewusstseins.
Auf diese Weise nehmen Betroffene und Lerner „ihr“ Thema selbst in die Hand. Sie helfen
sich gegenseitig, lernen gemeinsam, vernetzen sich. Sie bündeln ihre Anliegen und arbeiten
mit VHS und weiteren Bildungszentren zusammen. Sie erleben hier ihr eigenes Können als
wertvoll und zeigen dort ihre Leistungsfähigkeit in der Gesellschaft.
Dafür brauchen wir lokal starke und überregional vernetzte Selbsthilfegruppen.
Selbsthilfegruppen zu stärken und zu vernetzen, sie bei ihrer Entwicklung zu unterstützen
und ihr Sprachrohr zu sein, ist die Hauptaufgabe des Dachverbandes Alfa-Selbsthilfe.
Wir sind fest davon überzeugt: die Selbsthilfegruppen zu stärken, ist der wichtigste Hebel,
um Betroffene zum Lernen zu ermutigen und ihren Anliegen Gehör zu verschaffen.

2. These:
Der funktionale Analphabetismus hat leider einen starken „Verbündeten“ bekommen –
Covid-19.
Die Pandemie verschärft die Lage von Betroffenen und Selbsthilfegruppen deutlich!
Bildungszentren und Volkshochschulen mussten Kursangebote verringern und
PräsenzUnterricht einstellen. Selbsthilfegruppen konnten sich nicht mehr treffen. Ihre
Strukturen wurden stark geschwächt.
Menschen mit Lese-Rechtschreib-Problemen konnten nicht verständlich über den Virus,
Test, Impfung und die diversen Corona-Apps informiert werden. Das war und ist für sie eine
ernste Bedrohung, denn sie sind häufiger chronisch krank und gehören somit zur besonders
gefährdeten Bevölkerungsgruppe.
Covid-19 hat Lerner zu Hause festgehalten und auch dazu beigetragen, dass geschätzt
100.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss im Jahr 2021 verlassen haben.2
2 Schule: Zahl der Schulabbrecher zum Vorjahr verdoppelt – Tendenz steigend durch Corona (rnd.de, 25.08.2021)
Die sozialen „Long-Covid-Folgen“ für Lerner, Betroffene und viele Schüler im Lockdown
werden beträchtlich sein.

3. These:
Die Digitalisierung ist Fluch und Segen für viele Betroffene –
und wir müssen sie vorantreiben!
Die Pandemie hat die Digitalisierung weiter angetrieben. Sie hat für Menschen mit
LeseRechtschreib-Problemen zwei Seiten.
Die eine bringt neue diskrete Möglichkeiten für Begegnung und Lernen.
Die zweite Seite ist: Die Barrieren sind sehr hoch, um Computer nutzen zu können. Sie zu
nutzen, setzt voraus, dass man gut lesen kann. Verträge, Formulare bei Banken und Ärzten,
Handbücher, Passwörter – vieles ist für Betroffene eine sehr große Hürde.
Die Corona-Pandemie zeigt, dass wir mehr denn je Vernetzung und gemeinsame
Öffentlichkeitsarbeit brauchen. IT-Entwickler, Bildungsplaner, Ärzte und Behörden brauchen
die Erfahrung und Beratung durch die Betroffenen. Nur gemeinsam können wir gute und
praktische Angebote entwickeln.
Zudem fällt es den Betroffenen, die häufig in schlecht bezahlten Jobs arbeiten, schwer, die
nötigen Geräte anzuschaffen.
Daher brauchen wir einen umfassenden Plan, um Geräte und Kenntnisse schnell und
wirkungsvoll zu verbreiten.

4. These:
Eine nachhaltige Förderung muss Kinder und Erwachsene gleichzeitig unterstützen!
Wenn Kindergärten und Schulen rechtzeitig auf Lese und Rechtschreibschwächen reagieren,
braucht die Erwachsenenbildung nicht zu reparieren.
Der Kampf gegen Lese-und-Rechtschreib-Probleme muss bereits an den Grundschulen
stärker und lückenloser als bisher geführt werden.
Als Erwachsene lesen und schreiben zu lernen, ist besonders mühsam, weil Erwachsene
ohnehin schwerer lernen als Kinder. Durch die negativen Erfahrungen in der Schulzeit haben
viele Erwachsene einfach Angst davor. Erwachsene, die Angst davor haben, brauchen die
anhaltende Unterstützung von Menschen, die ebenfalls betroffen sind, besser mit dem
Druck und den Rückschlägen umgehen zu können.
Und ohne ehrenamtliche und professionelle Partner in der Erwachsenenbildung geht es auch
nicht.
Über 6 Millionen erwachsene Betroffene machen deutlich: Wir müssen die Erwachsenen
ebenso stärken wie die Kinder. Erwachsene brauchen auch Mittel zur Selbstorganisation und
Selbst-Bildung.
Denn auch erwachsene Betroffene wünschen sich nichts mehr, als ihren Kindern vorzulesen,
bei den Hausaufgaben helfen zu können. Betroffene Eltern wollen auch deutlich machen,
was es bedeutet, erst als Erwachsene richtig Lesen und Schreiben zu lernen. Eltern und ihre
Kinder können sich dabei gegenseitig helfen, gemeinsam in der Welt des Lesens und
Schreibens heimisch zu werden.
Eine frühe Hilfe würde auch sein, das Personal in den Kindergärten über das Problem gezielt
aufzuklären, um künftig Eltern und Kinder gemeinsam unterstützen zu können.
Wer Eltern dabei hilft, besser lesen und schreiben zu lernen, bildet gleichzeitig auch deren
Kinder besser.

5. These:
Lesen, schreiben, teilhaben – das ist der Weg in „unsere Gesellschaft“!
In politisch unruhigen Zeiten ist es besonders wichtig, sich gut und vielfältig zu informieren.
Nur ein informierter Bürger kann aktiv an den gesellschaftlichen Prozessen teilnehmen.
Nur durch eigenes Lesen können wir lernen, wie Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Bildung
in unserem Land funktionieren.
Je besser wir lesen und schreiben können, desto besser kann dieses Land unser Land
werden. Erst dann können wir in unserer Gesellschaft heimisch werden und für sie
Verantwortung übernehmen.
„6 Millionen mehr Verantwortungsträger – was für eine Zukunft für unser Land!“

6. These:
Das Bündnis aus Menschen mit Lese- und Rechtschreib-Problemen und schreibkundigen
Menschen ist unverzichtbar
Die Welt des Lesens und Schreibens muss jedem offenstehen: gebührenfrei, überall, an
diskreten Orten und mit geschultem Personal. Offenstehen heißt für uns auch: ab sofort mit
Computern, passenden Lernprogrammen, einfachen Apps und guten Schulungen.
Hierzu sind politische und wirtschaftliche Investitionen sowie Ermutigung und Vorbilder
nötig.
Dazu brauchen wir Begegnung auf Augenhöhe und Partnerschaft ohne Bevormundung. Das
benötigen wir am Arbeitsplatz, beim Lernen und in unseren Organisationen.
Lese- und schreibkundige Menschen sind unsere engsten Verbündeten, wenn sie uns
anerkennen, unterstützen und uns „selbst machen lassen“.
Eine besondere Rolle spielen dabei unsere Freunde aus der Welt der Literatur: Autoren,
Verlage und die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt. Unsere Unterstützer, wie Prof.
Bernhard Schlink und unser Schirmherr Sebastian Fitzek, geben uns seit Jahren in ihren
Büchern auf wunderbare Weise Raum und Stimme.
Leser, Verlage und Medien sollten sie als Vorbilder wahrnehmen, uns als Menschen zu
erkennen.
Wir ringen mutig, leidenschaftlich, aber auch mühevoll um das, was ihnen selbst die Welt
bedeutet: das Wort – gelesen, geschrieben und gedruckt.
Daher fordern wir Sie alle auf: Engagieren Sie sich! Persönlich! Finanziell! – Alles hilft!

7. These:
Gezielt handeln – jetzt! Betroffene einbinden!
Aus all dem ist klar: Es muss gehandelt werden, gern schrittweise, aber schnell und
andauernd. Unsere konkreten Vorschläge und Forderungen sind:
Private Spender finanzieren die digitale Grundausstattung der Selbsthilfegruppen und des
Dachverbandes Alfa-Selbsthilfe.
Alle aktuellen Selbsthilfegruppen und der Dachverband müssen mit Laptop, Drucker,
Monitor, Software und einem virtuellen Kommunikationstool (z.B. ZOOM) ausgestattet
werden.
In den Gruppen soll mindestens je ein Lerner so geschult werden, dass er oder sie weitere
Mitglieder in die Nutzung einführen kann.
Die Koordination dafür übernimmt der Dachverband. Auch neugegründete Gruppen erhalten
diese Grundausstattung aus Mitteln des Dachverbandes, sobald diese vorhanden sind.
Controlling oder Beratung durch Branchen-Experten sind herzlich willkommen!
Zwei Lehrkräfte in jede Grundschulklasse
Die Einstellung zum Lernen und die Grundlagen des Lesens und Schreibens werden in den
Grundschulen vermittelt. Hier darf kein Kind mehr übersehen werden.
Kinder mit Lese- und Rechtschreib-Problemen müssen so früh wie möglich entdeckt und
intensiv beim Lesen und Schreiben lernen begleitet werden. Das kann nur gelingen mit
Unterricht in kleinen Gruppen, Vermeidung jedes Unterrichtsausfalls und angepassten
Lernund Lehrgeschwindigkeiten.
Wir fordern die Bildungsministerien der Länder auf, bis 2025 jede Grundschulklasse mit zwei
Lehrkräften auszustatten. Diese müssen in den Klassen tatsächlich dauerhaft gemeinsam
unterrichten.
Eltern und Kinder gemeinsam bilden
Grundlage für den Lernerfolg ihrer Kinder ist das gute Beispiel der Eltern.
Eltern mit Lese- und Rechtschreib-Problemen fürchten nichts mehr, als ihren Kindern nicht
helfen zu können. Sie haben Angst, dass ihren Kindern dasselbe passiert wie ihnen selbst.
In jedem Bundesland müssen die vorhandenen Programme und Projekte zur Unterstützung
von Eltern mit Lese- und Rechtschreib- Problemen und ihren Kindern konsequent umgesetzt
werden. Weitere Forschung ist wichtig, aber ganz besonders wichtig ist die Umsetzung sofort
und überall.
Wir bitten die Institutionen und Stiftungen, die in diesem Thema tätig sind, Finanzmittel
bereit zu stellen und Konzepte der Familien-Bildung gemeinsam mit uns umzusetzen zu
fördern.
Wir sind über sechs Millionen
– das ist dreimal Hamburg, zehnmal Leipzig und ist mehr als ganz Dänemark Einwohner hat.
Das war schon vor der Corona – Pandemie so und das wird danach eher schlimmer sein.
Daher müssen wir jetzt gemeinsam und konsequent handeln:
Bürger, Politik, Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Medien und Kultur.

Dachverband Alfa-Selbsthilfe e.V.
Dessauer Straße 49 I 67063 Ludwigshafen
Tel.: +49 1634780857
Vereinsregister: 61327 I Registergericht: Ludwigshafen am Rhein
Vorstand: Solveig Klockmann, Robert Bambauer, Kerstin Goldenstein
Bankverbindung: Deutsche Skatbank:
IBAN: DE 86 8306 5408 0004 2293 47
BIC: GENODEF1SL